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Ich hole mich da ab wo ich bin

Es geht um gelebte Würde

Ein Antiquariat in Berlin

„Wann war denn das?“ geht’s mir durch den Kopf. Das war in Berlin irgendwann Anfang 2000 im Sommer und spielte sich vor und in einem Antiquariat ab.

In den 80er Jahren wohnte ich für 3 Jahre in Berlin. Ich habe die Stadt geliebt. Eine Stadt der Sucher. Sogar den Straßenbelag des Savigny Platzes habe ich „geküsst“. Dessen Boden berührte ich diskret mit Mittel- und Zeigefinger und führte sie dann zu meinem Mund. Meine Güte, war ich glücklich in dieser Stadt zu sein. Die 80er Jahre waren ein Hammer-Jahrzehnt für mich.

die Geschichte geht weiter …

Mein Freund und ich, wir schlenderten durch die Stadt, durch diese Straße, da fiel mein Blick in das Schaufenster eines Antiquariats.
Zu diesem Zeitpunkt arbeitete ich in einer Esoterischen Buchhandlung. Es war ein Titel über Milarepa, der mein Interesse weckte. Der Händler überließ mir den Band zum Anschauen. Ich spürte keinerlei Verbindung zum Inhalt. Eigentlich hätte ich jetzt das Geschäft wieder verlassen können, das tat ich aber nicht. Da fiel mein Blick auf ein Buch oder ein Buch blickte mich an – wer weiß das so genau ? – mit dem Titel Liebe als Leid von Susan Forward.
Da war sie, die Verbindung, allerdings war sie nicht an dem Ort, wo mein konditioniertes Selbst sie gern gesehen hätte.

Das konditionierte Selbst hat keine Würde, es ist banal

Noch nie in meinem Leben zuvor und auch danach, war mir der Konflikt zwischen Selbstkonzept, also was ich denke, wer ich bin und meiner unmittelbaren Körpersprache, meiner Wirklichkeit so deutlich wahrnehmbar, wie in diesem Moment. Dieser Augenblick war voll mit Lebendigkeit und Erkenntnis und weil es so war, konnte ich die Stimme meines Egos/Selbstkonzeptes ganz klar vernehmen :
„ Barbara…komm´… das kennste doch, das ist doch banal, diese Liebesleid-Nummer … da stehst Du doch drüber …“
Ja, ja…interessant ist, aus der weisen Retrospektive gesehen, dass ich zu diesem Zeitpunkt tief in einer coabhängigen Beziehung steckte. Auch für mich jetzt kaum zu glauben aber so war´s. Die Firmierung für solche Situationen heißt: Selbstbetrug.

Das Gute ist fast überall zu finden

Ich konnte nur ein Buch kaufen. Das Gute an begrenzten Finanzen ist: Du kannst daran lernen herauszufinden, was Du jetzt brauchst, was jetzt wichtig ist für Dich, Du kannst lernen, Dich zu strukturieren. In der Begrenzung kann ich etwas von Unmittelbarkeit und Direktheit spüren, so ungefähr ist es für mich.
John de Ruiter sagte einmal: everything helps.
Recht hat er.

→ Über John de Ruiter und seine Bedeutung für mich, möchte und werde ich noch schreiben.

Nach innerem Seilziehen zwischen Selbstkonzept und meiner natürlichen Substanz, die sich im Hingezogenfühlen zeigte, erschien unwillkürlich der erlösende Gedanke:

Ich hole mich da ab wo ich bin“

Diese Erkenntnis bedeutet für mich, dass ein natürlicher Jetzt-Zustand in meinem Wesen und spürbar in meinem Körper waltet. Diesen Zustand empfinde ich als Einheit, als Ganzheit. Das, was wirklich da ist, ist da, ist präsent, wird nicht verleugnet. Weit und breit keine Ist/Soll – Diskrepanz in Sicht, im Raum. Es ist ein Zustand ohne Fassade. Es ist ein Zustand gelebter Würde.

→: „Ist/Soll – Diskrepanz“ → Dr. Gunther Schmidt. Über diesen Mann und seine Bedeutung für mich möchte und werde ich auch noch schreiben.

Das Lesen dieses „banalen“ Buches hat einen großen inneren Schritt erzeugt, hat viel bewegt in mir, hat Eisschollen zum Tauen gebracht, ich fühlte mich beim Lesen von der Autorin „gesehen“.
Das Ego ist ein knallharter, steifer, schwacher Bursche, hat keine Substanz, deswegen muss es so unbeugsam, so hart sein. Ich wünschte, ich wäre mehr in einem fließenden Seinszustand. Das bin ich aber nicht.

Wofür ist unser Leben da ?

Für mein Verständnis ist der Begriff lebendiges Sein treffender für das was ich meine. Das Leben gehört mir nicht. Etwas Fluides, Fließendes, befindet sich in der Hütte, dem Raumanzug, dem Körper. Die Begriffe Körper, Geist, Seele kennt fast jeder und das Problem davon kennt auch fast jeder: Wie bekomme ich die Drei auf eine Etage. Noch zwei Bilder in mir verdeutlichen das was ich meine : Der Egotunnel, der entsteht, wenn die Ichhaftigkeit noch ohne bindende Substanz ist, der geputzt werden will. Deshalb nenne ich John de Ruiter oft den Rohrreinigungsservice. Und das biblische Bild: Neuer Wein wird nicht in alte Schläuche gegossen. Ich denke, dass wir Menschen ständig in alten Schläuchen physisch geboren werden.

Und jetzt der Rettungs-Gedanke: Die Forschung der Epigenetik belegt, das wir durch unsere spirituell-psychologische Entwicklung Spuren in unserem genetischen Material hinterlassen.
Es gibt so viele Parabeln/Gleichnisse, gelebte Beispiele für die Nachfolge Christi. Eine davon ist für mich der Willi von Konstantin Wecker. Zwei Aussagen in diesem Lied – der ganze Song ist für mich „Gänsehaut“- hier: Der Willi ist immer ein bißchen ehrlicher als die Anderen und „ …weil Mitlaufen ohne Denken kann nicht gut sein auch nicht für eine gute Sache“. Das sehe ich auch so.

Die Erkenntnis, dass ich mich nicht im Dauer-Flow befinde ist keine Entschuldigung für Resignation, es ist eine Anerkennung meiner kulturellen und sozialen Kondition. Ich sehe die Bedeutung meines hiesigen Daseins darin, diese Kondition, die in mir unbewusst Platz bekommen hat, aufzuweichen. Das verstehe ich als meine Aufgabe, das ist meine Berufung. Das Gute daran ist, ich werde bis zum Schluss immer etwas zu tun haben.

Abschließend möchte ich noch meine Sicht auf die übliche Verwendung des Begriffes Würde darlegen.

An der Kurt-Schumacher-Straße in Frankfurt Main, auf der Außenwand des Gerichtsgebäudes ist der Spruch angebracht:
Die Würde des Menschen ist unantastbar .
Die Schweizer Psychoanalytikerin Verena Kast bemerkte in einem Vortrag etwas über das Schweizer Verständnis des Begriffes Würde.
Sie sagte:“ In der Schweiz sagen wir: Die Würde des Menschen ist zu schützen und zu unterstützen.“
Was ist denn in diesem Satz zu finden ? Die Tätigkeitswörter: Schützen und unterstützen . Nur Substantive ohne Substanz zu verwenden, ist sinnlos aus meiner Sicht. Offensichtlich wissen die Schweizer, dass die Würde antastbar ist.
Für mich zeigt sich die Mentalität in der Sprache des Sprechenden . Vor Jahren wollte ich ein Schriftstück ins Englische übersetzen lassen. Die Übersetzerin teilte mir mit, dass ich damit rechnen müsse, dass der Text im Englischen 3 mal so lang wird. Die englische Sprache sei eher beschreibend.
Ja, das Beschreibende könnte der Deutschen Sprache in Deutschland gut bekömmlich sein.

Zwei Fragen, die ich stelle: Was bedeutet für Dich der Begriff Würde ? UND: Wofür ist dein Leben da ?

→liebe Leserin, lieber Leser, falls Du einen Impuls spürst, einen Kommentar zu hinterlassen, dann tue es. Du mußt es nicht unter deinem Namen veröffentlichen lassen. Du kannst einen Kunstnamen/Pseudonym angeben. Deine email-Adresse sehe nur ich.

Dieser Beitrag hat 4 Kommentare

  1. Cornelia v.W.

    „Ich hole mich da ab, wo ich bin.“
    Was für eine Weisheit steckt in dem Titel.
    Nimm Dich an Deine Hand und laß Dich führen. Dein Leben weiß, wohin es Dich mit nehmen möchte. Vertraue.

  2. Tarzan

    Sehr inspirierend ! Ich fühle mich ‚mitgenommen‘ , will sagen, ich erkenne sehr gut bei mir was du beschreibst…lieben Dank dafür sagt eine Freundin

    1. Barbara

      Freut mich, dein Kommentar, liebe Tarzan.
      Ich suche augenblicklich einen Artikel über Frank Schirrmacher; ein Zitat von ihm war der Titel. Ungefähr so:
      Das unser Denken so natürlich wird wie unser Atem.
      Ja, daß wir atmen, denken, sprechen, schreiben, handeln, unser individuelles Selbst zum Ausdruck bringen. Darum geht´s mir in diesem blog.
      Über Kommentare und Beiträge von „außen“ freue ich mich auch…
      Schreiben räumt äußerlich und innerlich auf. Ich kann´s nur empfehlen zu tun.

  3. Barbara

    Ich ergänze meinen Beitrag um eine Erfahrung, dass dieses Erleben von „ich hole mich dort ab, wo ich mich im Augenblick befinde“ nochmal verdeutlicht. Im letzten Jahr trat ich einer Gruppe bei. Ich wurde gefragt, ob ich einen längeren Text zusammenfassen und der Gruppe vortragen könne. Ich sagte zu, ohne zu fragen, welche Anforderungen an die Zusammenfassung gestellt werden. Jetzt weiß ich mehr.
    Am Tag des Vortragens meiner Zusammenfassung war ich sehr aufgeregt, mit allen Zeichen der Aufregung: Desorientiert, unorganisiert, verwirrt. Ich versuchte mich selbst zu beruhigen. Genau dieser Versuch schlug fehl. Was mich beruhigte war mein Eingeständnis: „Ich bin aufgeregt und habe Angst vor Blamage.“ Das war´s. Ich kann es nur empfehlen. Manchmal ist mir so klar, dass das Leben nur ein Lernprozess ist.

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